Nach wie vor gilt das Wort der Bundesregierung, dass bis zum Sommer alle erwachsenen Bürger*innen in Deutschland ein Impfangebot erhalten sollen. Eine hohe Impfquote gilt derzeit als einzig denkbarer Ausweg aus der Pandemie und damit dem Hin und Her zwischen Öffnungen und Lockdown und dann einer Rückkehr in einen Alltag. Aber schließen wir „nach Corona“ einfach nahtlos an? Mindestens für Kinder und Jugendliche wird das nicht funktionieren. Ihnen fehlt über ein Jahr „normales“ Leben. Dies ist nicht nur durch bloße Öffnung wieder hergestellt. Der Kinderschutzbund fordert für die Zeit ab jetzt und nach Corona und seinen Eindämmungsverordnungen, den Fokus erst recht auf Kinder und Jugendliche zu richten. Eine „Generation Corona“ wollen wir verhindern. Die gute Nachricht ist: Wir können sie verhindern.
Unterstützungsbedarf besteht bei allen Kindern und Jugendlichen. Selbstverständlich gibt es aber Kinder und Jugendliche, die den Lockdown, die Einschränkungen von Unterstützungssystemen und Bildung so-wie das Zurückgeworfensein auf die Familie besonders dramatisch erleben mussten. Von massiver Bildungsungerechtigkeit bis zu Fällen gesteigerter häuslicher Gewalt reicht das Spektrum. Auch Kinder in besonderen Lebensumständen, wie zum Beispiel in der stationären Unterbringung, sind besonders betroffen. Ihren Herausforderungen muss besonders begegnet werden.
Darüber dürfen aber die Problemlagen, die nahezu alle Kinder und Jugendliche betreffen nicht vergessen werden. Allen Kindern und Jugendlichen wurden Entwicklungsräume genommen und Lebenswelten eingeschränkt.
Die Pandemie hat einmal mehr deutlich gemacht, wo die eigentlichen Problemlagen schon vorher lagen.
Die im Folgenden skizzierten Problemlagen sind nicht abschließend zu verstehen, beschreiben aber die Bereiche, in denen offensichtlich Handlungsbedarf besteht:
Bildung:
Die Frühkindlichen Angebote in Kita und Kindertagespflege dienen explizit nicht nur der Betreuung der Kinder, sondern stellen ein dezidiertes Bildungsangebot dar, das über die Dauer von etwa einem Jahr von vielen Kindern nicht oder nur eingeschränkt genutzt werden konnten. Im Bereich der Sprachförderung fehlte es bei vielen Kindern dadurch an relevante Unterstützung. Gleiches gilt für das Erlernen von Sozialverhalten mit Gleichaltrigen und in der Gruppe, das Erleben von Regeln und Interaktion. Gerade für Kinder ohne Geschwister oder sonstigen Peerkontakt fehlte ein zentrales Element.
Im Bereich der Grundschule muss das Basiswissen, das durch die ersten Jahrgangstufen grundgelegt wird, sichergestellt werden. Das ist Grundlage für den weiteren Bildungsweg. Wer hier zurückfällt, kann das nur schwer wieder aufholen bzw. noch die zum weiteren Lernen notwendigen Grundfertigkeiten erwerben.
Schüler*innen in allen Jahrgangsstufen konnten jetzt lange Zeit keinen regulären Unterricht erhalten – der Anschluss an einen „normalen“ Schulbetrieb kann daher nicht einfach durch bloße Rückkehr zum Stundenplan erfolgen.
Teil der Berufsfindungsphase sind Praktika, Bewerbungstrainings, Berufsberatung etc. Nichts davon konnte in gewohnter Weise stattfinden – gleichzeitig stehen junge Menschen vor einem Arbeitsmarkt, der vermutlich deutlich weniger Ausbildungsplätze für sie bereithält.
Gesundheit:
Gesundheitliche Risiken ergeben sich aktuell nicht nur durch die Pandemie, sondern für Kinder und Jugendliche auch durch Bewegungsmangel, unausgewogenen Ernährung und psychische Belastungen im Lockdown.
Auch schon vor der Pandemie wurde auf den vorhandenen Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen hingewiesen. Seit über einem Jahr findet kein oder fast kein Schulsport oder Sport im Verein statt. Sportstätten um selbstständig aktiv zu werden, z.B. Fußballplätze oder Schwimmbäder sind überwiegend geschlossen.
Bereits in den vergangenen Jahren wurde darauf hingewiesen das Schwimmen als notwendige Kulturtechnik immer weniger gelernt werden kann. Mittlerweile haben wir in Deutschland zwei Schuljahrgänge von faktischen Nichtschwimmer*innen. Ein Angebot in Schule, Verein oder privater Anbieter stand genauso wenig zu Verfügung wie die Möglichkeit des Besuchs von Bädern und Schwimmbecken mit den Eltern.
Ausgewogene und gesunde Ernährung sollte für Kinder und Jugendliche eine Selbstverständlichkeit und kein Luxus sein. Gleichzeitig ist bekannt, dass dieses zum einen oft von der wirtschaftlichen Situation der Elternhäuser abhängt und deshalb vielfach durch Schule und Kita sichergestellt werden musste. Geschlossene Bildungs- und Betreuungseinrichtungen haben also auch auf die Ernährung von Kindern Einfluss.
Die Isolation und die Kontaktbeschränkungen hatten bei vielen Kindern und Jugendlichen auch dann Aus-wirkungen auf die Psyche, wenn Sie nicht unter Gewalt litten. Angstzustände und andere Verhaltensauffälligkeiten haben z.B. laut der Copsy Studie des UKE deutlich zugenommen.
Schuleingangsuntersuchungen (z.T. auch U-Untersuchungen) die ein relevantes Instrument für die Frage des Entwicklungsstandes können, fanden häufig nicht statt. Ein enges Monitoring der Kindergesundheit – wie es für anderen Jahrgänge erfolgt ist, fehlt also.
Soziale Teilhabe - Orte und Freiräume
Kinder und Jugendliche brauchen auch außerhalb des Elternhauses und der Schule Kontakte zu Gleichalt-rigen. Dafür bietet unter anderem die Kinder- und Jugendarbeit von vielen Trägern der Jugendarbeit Raum. Diese Orte des Selbstgestaltens, des Ausprobieren, der Verantwortungsübernahme und der Freizeitgestaltung standen kaum zu Verfügung.
Der wiederholte Lockdown, die geforderte Trennung von Peers und das Zurückwerfen auf den elterlichen Haushalt erschwerte die Persönlichkeitsentwicklung in der Jugend massiv. Erwachsenwerden lässt sich nicht vertagen. Jugendlichen muss deshalb jetzt Raum gegeben werden. Der Wunsch auszubrechen, zu feiern und gemeinsam abzuhängen darf nicht als Hedonismus gebrandmarkt, sondern muss als notwendiger Bestandteil des Erwachsenwerdens anerkannt werden. Neben institutionalisierten Angeboten braucht es also auch freie Entwicklungsräume!
Der Kinderschutzbund fordert deshalb: Kinder und Jugendliche brauchen jetzt Räume und Unterstützung - keine Kürzungen, sondern Investitionen!
Kinder und Jugendliche brauchen jetzt Zeit, sich Räume anzueignen und Orientierung zu suchen. Die Gesellschaft ist aufgerufen, sie darin mehr denn je zu unterstützen.
Kinder und Jugendliche haben sich, wie an verschieden Stellen und in Studien deutlich wurde, in der Pandemie nicht gehört und gesehen gefühlt. Dies muss sich in der sich anschließenden Zeit deutlich ändern. Bei den anstehenden Maßnahmen müssen Meinungen und Interessenslagen sowie Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen ernstgemeint in den Blick genommen und berücksichtigt werden.
Mittelknappheit darf nicht zu Lasten der Angebote der Kinder und Jugendliche gehen, sondern es muss im Gegenteil investiert werden. Strukturen, die sie unterstützen, müssen gestärkt aus der Pandemie hervorgehen – das gilt insbesondere für die Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit und des Sports, der Freizeitgestaltung, kultureller und musischer Angebote und vielem anderen mehr.
Kultusministerien und Schulen aber auch alle anderen Bildungsinstitutionen sind aufgerufen, Konzepte zu entwickeln, wie entgangener Schulstoff nachgeholt werden kann. Die Wirtschafts- und Arbeitsministerien müssen zusammen mit Arbeitgebern und Gewerkschaften bereits jetzt alle Anstrengungen und Sorge dafür tragen, dass jungen Menschen einen Übergang in Arbeit gelingt.
Für Kinder und Jugendliche wird diese Pandemie lange nachwirken. Es ist an uns als Gesamtgesellschaft diese Herausforderung anzunehmen.
Beschlossen von der gemeinsamen Sitzung des Bundesvorstands und der Landesvorständekonferenz des Kinderschutzbundes am 24.4.21